Ich war ein Teppich.
Zusammen mit unzähligen meiner Geschwister lag ich in einer großen Kiste bei IKEA. Über uns prangte ein Schild, "Garnteppich, 60 x 90 cm" stand darauf. Ein weiteres, leuchtend gelbes Schild verkündete unseren Preis: 1,89 Euro. Die Leute gingen meist achtlos an uns vorüber, hin und wieder kam jemand näher, nahm einen von uns in die Hand, schaute uns abschätzend an und legte uns zurück, den Blick und die Gedanken schon bei den anderen Teppichen, Kissen und Decken. Doch dann, an einem Montag Nachmittag, kam sie in unsere Halle. Sie musste uns schon von weitem erspäht haben, denn ihre Augen glitzerten, als sie ihren Einkaufswagen in unsere Richtung schob. Sie blieb direkt vor uns stehen und flüsterte: "Ihr seid aber schön! Perfekt für den Strand!" Dann muss ihr aufgefallen sein, wie klein wir sind, denn sie schaute ein wenig enttäuscht. Sie schien zu überlegen. Ihr kleiner Begleiter wollte sie schon weiterzerren, da griff sie kurzentschlossen zu, packte mich, und legte mich in ihren Wagen. Was für ein glücklicher Tag! Bald würde ich ihr in ihrem Reich zu Füßen liegen.
Doch bevor sie mich heimbrachte, ging sie noch in den Baumarkt. Karabiner, Ringe, Ösen und Gurtband brachte sie mit, dazu extra reißfestes Garn und eine Handwerkernadel. Was hatte sie vor? Aber zum Nachdenken kam ich nicht. Sie legte mich, zu Hause angekommen, auf feines, kühles Eichenparkett, strich mich glatt, und ich schlief sofort ein. Am nächsten Morgen erklärte sie mir und ihrem kleinen Gehilfen, was sie mit mir vorhatte: eine Strandtasche sollte aus mir werden. Was für eine Aufregung! Würde das gutgehen? Sie bohrte mit einer kleinen Schere Löcher in meine Kanten und schlug mit dem Hammer vier Ösen ein. Ich kann euch sagen, das hat mir nicht gefallen. Dem kleinen Jungen dafür umso mehr. Auch er schlug einige Male auf mich ein. Danach nähte sie meine Seiten zusammen, das piekste ziemlich unangenehm. Leider hat sie beim Nähen entdeckt, dass meine Streifen etwas unregelmäßig sind. Wäre ich kein Teppich, wäre ich wohl rot angelaufen, aber sie meinte nur, dass das eben meinen einzigartigen Charakter unterstreichen würde. Ist sie nicht ein Schatz? Und dann konnte ich mich entspannen, denn nun waren die Gurtbänder an der Reihe. Sie wurden zurechtgeschnitten und an jedem Ende mit einem Ring versehen. Sagt es nicht weiter, aber meine Fee hat dabei ziemlich böse geflucht, weil ihre zarten Hände die Nadel kaum durch die dicken Bänder bringen konnte. Aber dann war es geschafft: sie hängte die Karabiner in die Ösen und die Ringe in die Karabiner, und simsaladim war ich eine Strandtasche. Eine männliche Stimme in ihrer Wohnung hörte ich etwas von Jute, Peruanern und Öko-Look erzählen, aber mir ist das egal - ich finde mich sehr cool. Schade, dass mich die anderen Teppiche bei IKEA nicht sehen können!
Heute morgen hat mich meine Besitzerin zur Probe gepackt: ihr riesiges, 2,20 x 2,50 m großes Strandlaken, zwei Handtücher, Badeanzug und Badehose, Taucherbrille und Schnorchel, Sonnencreme, Schaufel und Sandförmchen, ein Fußball und ein Buch - das alles passt in mich hinein. Sie war sehr zufrieden mit mir und hat mir versprochen, mich mit in den Urlaub zu nehmen. Schon in zwei Tagen fahren wir gemeinsam an die Ostsee, nur sie und ich (und ihre beiden männlichen Begleiter, deren Sachen ich auch trage muss.) Ich freu mich schon so. Strand und Sonne und Meer, welcher Teppich bringt es schon so weit?
clickclack - 9. Aug, 18:46